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Zur Geschichte von Libau / Kurland bis 1914 (Seite 9)

  Zur Sozialgeschichte Libaus - Teil 3

Aufschlußreich ist die Bevölkerungsstatistik von 1834  ( > Tabelle ), weil in ihr die Kaufleute nach Gilden im Sinne des russischen Handels- und Steuerrechts aufgegliedert sind, so daß daraus in etwa deren Vermögenslage erkennbar wird.

         In diesem Zusammenhang ist auf einen grundsätzlichen, m. E. bisher wenig erforschten Unterschied hinzuweisen: Die Zugehörigkeit zu einer Gilde im Sinne des russischen Handels- und Steuerrechts hing vor allem von dem zur Besteuerung angegebenen Vermögen ab. Hingegen waren die Gilden, wie sie sich nach den deutschen Stadtrechten herausgebildet hatten, weniger Ausdruck von Besitzverhältnissen als vielmehr Kennzeichen eines sozialen Status innerhalb der ständisch gegliederten Gesellschaft. Deshalb gehörten z. B. die jüdischen Händler in Libau zwar einer der nach russischem Recht bestehenden Gilden an, nicht aber der “Großen Gilde”, also dem eigentlichen Kaufmannsstand. Hingegen waren die wohlhabenden Libauer Fernhandelskaufleute ausnahmslos Mitglieder der Großen Gilde und deutscher Herkunft. >1<

Außer Stadt- und Zollbediensteten gab es in Libau verhältnismäßig wenig Beamte. Das hing damit zusammen, daß die für Libau zuständigen staatlichen Verwaltungs- und Gerichtsbehörden in Mitau (Gouvernementsregierung) oder in den kleinen Städten Hasenpoth (Oberhauptmannschaft) und Grobin (Hauptmannschaft bzw. Kreis) ihren Sitz hatten. 

Ganz im Gegensatz zu Mitau war der Adel zu jener Zeit in Libau kaum vertreten. Ein anonymer Verfasser schrieb dazu aus eigener Anschauung in einer baltischen Wochenschrift. “Wie in keiner Stadt Kurlands gab es hier (in Libau um 1820) einen tüchtigen Bürgerstand, der sich seines Werthes und seiner Kraft wohl bewußt war. Deswegen aber mied der Kurische Adel die Stadt und wählte sie nicht gern zum Aufenthalt. Wenn die Kurischen Städte treffend als Domestiken-Stuben und Absteigequartiere des Adels genannt worden sind, so galt das wenigstens damals noch nicht für Libau. Denn der hier herrschende selbstständige Geist der reichen Kaufherren und des biederen derben Gewerksmanns beleidigten seinen Stolz; Libau ist zum Glück keine Kreisstadt und daher auch nicht Sitz der Adelsbehörden. Das hat ihr den bürgerlichen Charakter bewahrt und ihr in früherer Zeit die Entwicklung des städtischen Gemeinwesens gesichert.” >2<

40 Jahre später, also um 1860, stellte der gleiche Autor fest, daß die Verhältnisse sich inzwischen grundlegend gewandelt hätten. Bedauernd meinte er, “daß das frühere Selbstgefühl des Mittelstandes” auch in Libau ver- schwunden sei und “daß auch sonst tüchtige Männer zu dem Umgange mit Adligen sich drängen, um sich gelegentlich von ihnen als Luft behandeln zu lassen”. >3<

Tiefgreifender waren jedoch die Veränderungen, die sich in der Sozialstruktur Libaus durch die Industrialisierung ergaben. Der Kaufmannsstand wurde mehr oder weniger abgelöst durch eine Unternehmerklasse, der ein zahlenmäßig stark zunehmendes Proletariat gegenüberstand. Soziale Ausein- andersetzungen, die während der russischen Revolution von 1905 einen ersten Höhepunkt erreichten, und und wachsender Nationalismus kündeten in den letzten Jahrzehnten vor dem 1. Weltkrieg auch in Libau von einer neuen Zeit.

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>1<  Vgl. hierzu die Beschreibung von Johann Georg Kohl, Die deutsch-russischen                                 Ostseeprovinzen oder Natur- und Völkerleben in Kur-, Liv- und Esthland, 1. Teil,
         Dresden und Leipzig 1841,S.12 f.

>2<  Das Inland. Eine Wochenschrift für Liv-, Est- und Kurlands Geschichte, Geographie,                       Statistik und Literatur, 25. Jg. (1860), Nr.14, S. 275.

>3<  Ebd., S. 277. 

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